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Geschlechtsspezifische Unterschiede der MS

Die Prävalenz (Erkrankungshäufigkeit) der Multiplen Sklerose ist geschlechtsspezifisch. Frauen erkranken doppelt so häufig als Männer – Hormone, in erster Linie Testosteron, dürften dabei eine ursächliche Rolle spielen. Auch zeigten Studien, dass die Progression der Erkrankung bei Frauen geringer ist als bei Männern. Zusätzlich dürften auch genetische Faktoren einen Einfluss auf die Ätiologie der MS haben.

Das Erkrankungsrisiko nimmt innerhalb der Familie mit zunehmender Distanz im Verwandtschaftsgrad vom Betroffenen ab. Geschwister von Betroffenen erkranken durchschnittlich 20-mal, Eltern und Kinder 12-mal und Cousinen und Cousins 5-mal häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt. Das „Übertragungsrisiko“ von der Mutter auf die Kinder erscheint höher als das des Vaters. Obwohl genetische Faktoren in der Entstehung der MS sicher mitwirken, ist das allgemeine Risiko der Nachkommenschaft, an MS zu erkranken, trotzdem geringer zu betrachten im Vergleich zu anderen vererbbaren Erkrankungen wie z.B. Diabetes. Der wohl größte geschlechtsspezifische Unterschied betrifft die Schwangerschaft und die Geburt.
Grundsätzlich besteht kein erhöhtes Risiko für Fehlgeburten, Frühgeburten oder andere Schwangerschaftskomplikationen. Eine Schwangerschaft hat laut Studien auch keine negative Auswirkung auf den Gesamtverlauf der MS. Es konnte in einer Studie sogar gezeigt werden, dass die MS bei Frauen, die Kinder geboren haben, seltener auftrat als bei kinderlosen Frauen. In der Schwangerschaft treten Schübe seltener auf als zuvor, was hormonell begründet ist. Die Schubrate steigt nach der Entbindung in den ersten 3-6 Monaten an. In dieser Zeit ist bei hoher Schubrate eine „postpartale Schubprophylaxe“ mit Immunglobulinen zu überlegen. Es besteht kein Einwand gegen das Stillen, da Frauen, die stillen laut Untersuchungsberichten sogar eine geringere Schubrate hatten. Medikamente, insbesondere Immunmodulatoren und Immunsuppressiva, sollten in der Schwangerschaft abgesetzt werden. Die Schubbehandlung erfolgt mit Cortison nach Absprache mit dem Arzt.

Urologische Probleme sind ebenfalls geschlechtsspezifisch unterschiedlich – bedingt einerseits durch die verschiedenen anatomischen Gegebenheiten, andererseits auch durch die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Verarbeitungsmechanismen. Große Unterschiede zeigen sich auch in der Versorgung mit Hilfsmitteln wie z.B. Kondomurinal, Katheter etc. bei Blasenstörungen. Sexualfunktionsstörungen sind häufig ein Tabuthema, treten jedoch in 30 – 80 % der MS-Patienten innerhalb von durchschnittlich 10 Jahren im Krankheitsverlauf auf. Sexualfunktionsstörungen äußern sich bei der Frau zumeist in Störungen des Sexualverlangens und –empfindens sowie auch Orgasmusstörungen und sexuellen Schmerzsyndromen. Beim Mann steht vor allem die Libidoverminderung im Vordergrund neben erektiler Dysfunktion, Orgasmus- und Ejakulationsstörungen. Bedeutsam erscheinen auch die psychischen Auswirkungen der Sexualfunktionsstörungen, wobei diese auch psychogen bedingt sein können. Bei 33 % der männlichen und 19 % der weiblichen MS-Patienten/-innen sind Sexualfunktionsstörungen Grund für erhebliche Ehe-/Partnerprobleme.

Depressionen spielen bei MS-Erkrankten eine erhebliche Rolle, die Prävalenz der Depression liegt dabei bei 47-54 %, d.h. bis zu 3-fach höher als in der Allgemeinbevölkerung. Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich vor allem im klinischen Erscheinungsbild der Depression, wobei Männer versuchen, die Symptome zu negieren und eher dysphorisch/aggressiv reagieren und eine erhöhte Suchtrate aufweisen. Frauen zeigen deutliche Traurigkeit und Antriebsstörungen, auch häufiger Somatisierungsneigungen. Die Suizidrate ist höher als bei anderen neurologischen Erkrankungen, vor allem bei Männern ohne Arbeit sowie bei Patienten, deren MS vor dem 30. Lebensjahr beginnt.

Eine wesentliche Rolle spielt auch die Krankheitsverarbeitung. Diese ist das Bemühen, die somatischen, psychischen und sozialen Folgen der Krankheit in die intrapsychische und interpersonale Realität zu integrieren. Dies ist abhängig sowohl von innerpsychischen Faktoren als auch von Diagnose, Verlauf und Schwere der Erkrankung. In der Krankheitsverarbeitung der Betroffenen und deren Partner gibt es deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Bei den Männern besteht eine Tendenz, eine emotionale Preisgabe zu vermeiden und sich so vor der Enthüllung ihrer Gefühle zu schützen, während Frauen Emotionen initiieren und kommunizieren. Eine Depression einer kranken Ehefrau scheint diese auch beim gesunden Ehemann auszulösen, aber nicht umgekehrt. Frauen – ob kranker oder gesunder Partner – werden durch die klinische Verschlechterung der Krankheit in der Krankheitsverarbeitung signifikant beeinflusst: positiv bei Zunehmen der Erkrankung des Partners, negativ bei Zunahme der eigenen Erkrankung. Männer – ob kranker oder gesunder Partner – werden durch den Verlauf der Krankheit und durch den Schweregrad der Erkrankung nicht in ihrer Krankheitsverarbeitung beeinflusst. Die Krankheitsverarbeitung bei Kindern und Jugendlichen von an MS erkrankten Eltern ist signifikant vom Geschlecht beeinflusst. Töchter verarbeiten im allgemeinen besser als Söhne in allen Altersgruppen, unabhängig vom Geschlecht des an MS erkrankten Elternteils. Die Töchter verarbeiten besser, je jünger sie beim Ausbruch der elterlichen Krankheit sind und je schwerer und länger die Erkrankung verläuft. Die Verarbeitung der Krankheit durch die Söhne wird durch keine der erwähnten Variablen beeinflusst. Kinder scheinen eher dazu zu neigen, Verhaltensmuster gleichgeschlechtlicher Elternteile nachzuahmen – diese scheint eine wichtige Imitationsfigur bzw. ein wichtiges Rollenmodell zu sein. Bei Mädchen traten im Moment der Diagnose elterlicher Krankheit signifikant häufiger Angst- und Depressionssymptome auf als bei den Jungen. Mädchen und Frauen übernehmen eine größere Verantwortung in ihrer Unterstützung von ihnen wichtigen Bezugspersonen. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass Mütter und Töchter sich leichter und früher mit den mit der Krankheit verbundenen Gefühlen auseinandersetzen und kontinuierliche Trauerarbeit leisten. Die Hypothese, dass Frauen und Männer sowie Mädchen und Jungen unterschiedliche Bewältigungs- und Anpassungsmechanismen nutzen, muss durch künftige Forschung verifiziert werden.

Dr. Edith Raffer, FÄ für Neurologie, 5020 Salzburg
Dr. Hildegard Stangl, FÄ für Neurologie, 5110 Oberndorf

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